Tschernobyl nicht vergessen!
„Das Gedächtnis der Menschheit für erduldete Leiden ist erstaunlich kurz. Ihre Vorstellungskraft für kommende Leiden ist fast noch geringer.“ (Bertolt Brecht, 1952).
Wider das Vergessen der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl (1986) unterstützen SODI!-Gruppen entlang der Oder mit Hilfsprojekten insbesondere strahlengeschädigte Kinder in Belarus. Im Sinne der Losung „Miteinander - Füreinander“ engagieren sich seit 10 Jahren Gruppen der Volkssolidarität, Kreisverband Frankfurt (Oder).
Die Folgen der Nuklearkatastrophe sind in Belarus immer noch gegenwärtig. Wie groß sind die davon betroffenen Flächen?
Etwa zwanzig Prozent des Gesamtterritoriums sind von der Verstrahlung betroffen, darauf leben ungefähr eine Million Menschen, 350.000 davon sind Kinder. Belarus will sechsunddreißig Jahre nach Tschernobyl zu einer Normalität zurückkehren, die es auch in Generationen noch nicht geben wird. Die tödlichen Gefahren werden dabei ignoriert. Das unabhängige belarussische Institut für Strahlensicherheit (BELRAD) wurde 1990 gegründet, um mittels selbst entwickelter Radiometer die Strahlenbelastung von Lebensmitteln in den radioaktiv verseuchten Gebieten von Belarus zu ermitteln. Damit einher gehen Aufklärungskampagnen für die Bevölkerung und Hilfsprojekte, um mit eigens hergestellten Pektin-Präparaten die Ausscheidung von Radionukliden aus dem Körper zu beschleunigen oder etwa Kinder für eine begrenzte Zeit aus den belasteten Gebieten zu bringen. Doch die Arbeit von BELRAD ist gefährdet, seit die Regierung beschlossen hat, die Dauerbelastung für beendet zu erklären. Die Armut zwingt die Menschen etwa Waldpilze zu sammeln, die über Litauen auch in die Europäische Union auf den Markt gelangen.
Wie muss man sich das Leben der Bevölkerung in den verstrahlten Gebieten vorstellen, wovon leben die Menschen?
Die Mehrzahl der Bevölkerung geht einer Arbeit nach, außer den Pensionär*innen natürlich. Die Löhne sind aber so niedrig, dass das Einkommen nicht ausreicht, Lebensmittel in Geschäften einzukaufen. Der Großteil der Nahrungsmittel kommt aus den eigenen Gärten hinterm Haus und dem, was die Leute im Wald sammeln.
Welche Maßnahmen wurden ergriffen, um die radioaktive Belastung zu mindern, etwa durch Bodenaustausch?
Auf den Flächen, die landwirtschaftlich genutzt werden, wurde der Boden ausgetauscht, oder man hat durch mineralische Düngung Nuklide gebunden. Dadurch hat sich tatsächlich die Gefahr für die dort arbeitenden Menschen etwas verringert und die radioaktive Belastung der geernteten Früchte liegt noch innerhalb der Grenzwerte. In den letzten zehn Jahren haben wir als Organisation die Kontrolle von Produkten übernommen, die aus Milch hergestellt werden. Und in dieser Zeit konnten wir keine Überschreitung der Grenzwerte in Milchprodukten, weder der für Kinder noch für Erwachsene feststellen. Um aber auf die Frage nach der Arbeit zurückzukommen: um Technologie einzusetzen, um das Land zu dekontaminieren, bedarf es hoher Investitionen. Die Menschen, die auf dem Land arbeiten, sind nach wie vor einem großen Risiko ausgesetzt. Die Regierung hat entschieden, dass es sich lohnt, weiter in der Landwirtschaft zu arbeiten. Auch wenn die Beschäftigten dort nur ein paar Kopeken für ihre Arbeit erhalten. Unserer Meinung nach ist es viel problematischer, dass ein erheblicher Teil der (aufgrund der radioaktiven Belastung) zwischenzeitlich brachliegenden Flächen wieder in die Fläche der Kolchosen für die Lebensmittelproduktion eingebracht wird. Man hätte 1986, als die Katastrophe passierte, diese Territorien umgehend verlassen müssen und nie wieder zurückkehren dürfen. Doch es kam anders. Unser Staat hat aus verschiedenen Gründen entschieden, das zu nutzen, was wir haben, trotz der Belastung.
Apropos Strahlenbelastung: Welche Maßnahmen werden von staatlicher Seite ergriffen, um den Betroffenen zu helfen, und welche werden nicht ergriffen, wo müssen Organisationen wie die Ihre einspringen?
Lassen Sie uns mit der staatlichen Seite beginnen: In den Jahren der Unabhängigkeit seit 1992 wurde, ganz ohne Ironie, sehr viel getan. Eine ganz wichtige Sache war die Umstellung der Heizsysteme in den Dörfern auf Gas. Denn Holz, das vorher zu Heizzwecken verbrannt wurde, war ganz besonders kontaminiert. Als zweites ist zu nennen, dass die Kinder in den betroffenen Siedlungen über mehrere Jahre in den Schulen kostenlos mit nicht verseuchten Lebensmitteln versorgt wurden. Dazu kam, dass Schüler*innen von der ersten bis zur zehnten Klasse bis zu dreimal im Jahr kostenlos in Erholungslager geschickt wurden. Das alles änderte sich zu Beginn des Jahres 2008, meiner Ansicht nach aus drei Gründen: einmal wirtschaftliche – alles verteuerte sich und das Geld reichte für die Erholungslager usw. schlichtweg nicht mehr aus. Zum zweiten fiel dann die Entscheidung, in Belarus ein Atomkraftwerk zu bauen. Man gab sich redlich Mühe, dass der Bau des Atomkraftwerks nicht in einen Zusammenhang mit der Katastrophe von Tschernobyl gebracht wird. Wir haben uns seit unserer Gründung darauf konzentriert, für diejenigen in den Gegenden aktiv zu werden, die vom Staat keinerlei Unterstützung erhalten. Das ist in erster Linie die Überwachung der Lebensmittel auf radioaktive Belastung, die von den Menschen selbst angebaut werden, und jenen, die traditionell im Wald gesammelt werden – Wild, Pilze, Beeren, alles, was einfach beschafft werden kann. Wir waren die ersten, die solche Untersuchungen vornahmen. Später nahm unser Institut auch Messungen darüber vor, wie viel Nuklide sich in den Körpern von Kindern und Schwangeren eingelagert hatten. Von staatlicher Seite gab es dergleichen nicht. Erst viel später wurde beim Gesundheitsministerium eine Abteilung zur Messung der Strahlenbelastung eingerichtet. Aber die staatlichen Untersuchungen wurden nur einmal im Jahr vorgenommen. Wir haben eine mobile Ausrüstung und können die Messungen vor Ort etwa drei bis viermal im Jahr durchführen. Dadurch konnten wir viel besser die Dynamik über Jahre hinweg verfolgen. Mit der geänderten Sachlage hinsichtlich der Bewertung beschloss das Ministerium 2007, dass unser Institut als aufgelöst zu betrachten sei. Denn die von uns erhobenen Daten unterschieden sich erheblich von den offiziell verkündeten. Unser Institut war heftigen Angriffen ausgesetzt, über Monate versuchten die Gesundheitsverwaltung, Polizei und Steuerverwaltung uns irgendwelche Verfehlungen nachzuweisen, um irgendeinen einen Grund zu finden, das Institut zu schließen. Dieser Druck führte letztlich dazu, dass mein Vater starb, der das Institut gegründet und leidenschaftlich für eine Verbesserung in den verseuchten Gebieten gekämpft hatte.
Gibt es offizielle Zahlen darüber, wie viele Menschen pro Jahr an den Folgen der radioaktiven Verseuchung sterben?
Nein. Solche Daten werden bewusst nicht erhoben. Die Einschätzungen zu den Erkrankungen aus medizinischer Sicht haben sich in den letzten Jahren stark verändert. Noch Ende 2000 wurde ein sogenanntes Tschernobyl-Register über sämtliche Bewohner*innen der betroffenen Region eingerichtet. Darin waren auch jene registriert, die in dekontaminierte Gebiete oder in die Städte umgezogen waren. Erfasst waren auch die Familien der »Liquidatoren«, die mit hoher Opferbereitschaft 1986 die ersten Aufräumarbeiten nach der Katastrophe geleistet haben. In dieser Zeit erschienen viele Zeitungsartikel über die tatsächliche Situation und die tatsächlichen Ausmaße. So ein Register wurde sowohl in Belarus als auch in Russland eingerichtet. Binnen eines Jahres wurden die Daten des Registers dann zusammengeführt und ausgewertet. Doch dann schien Tschernobyl vergessen. 2010 erklärte das belorussische Gesundheitsministerium, die Zahl und Schwere von Erkrankungen in den verseuchten Gebieten sei nicht höher als in anderen Landesteilen. Seltsamerweise beträgt in den betroffenen Gebieten wie etwa im Bezirk Gomel die Zahl der missgebildeten oder sonstig dauerhaft geschädigten Kinder das Dreißigfache der Rate in anderen Regionen.
Wir müssen immer wieder daran erinnern, dass so etwas wie in Tschernobyl jederzeit in ganz Europa passieren kann, niemand ist davor gefeit. Deshalb wünschen wir uns allen einen kühlen Kopf und heiße Herzen, gerade auch in diesen schwierigen und beschwerlichen Zeiten.
Das Interview führte Hagen Weinberg, Aktiver der SODI! - Gruppen entlang der Oder.
Das könnte Sie auch interessieren.
Der SODI-Newsletter.
Erhalten sie aktuelle Informationen aus erster Hand.
Hier finden Sie unsere Datenschutzerklärung. Unter dem Link „Abmeldung“ können Sie sich jederzeit wieder von unserem kostenlosen Newsletter abmelden.
Unsere Publikationen
auf einen Blick.
Einblicke und Ausblicke durch SODIs Publikationen: Erfahren Sie mehr über entwicklungspolitische Themen sowie SODIs Projekte weltweit.